Hunde von Bukarest

Hunde von Bukarest

Hunde von Bukarest,

wäre ich einer von Euch, ich würde Euch verstehen, aber ich gehöre zu jenen, die Euch beherrschen, denen Ihr bereitwillig folgt. Als Mensch kann ich über Euch reden und richten, ich kann mir ein Bild von Euch machen, das mir entspricht, das sogar mit mir spricht. Ich könnte ein Hundeleben führen, doch nie wie Ihr es tut, sondern immer nur nach Menschenart. Denn ich bin hier, auf der anderen Seite der Existenz geboren, dort, wo die Plätze warm und die Speisen gesund sind, wo man ein Hund genannt wird, wenn man stehlen oder betteln muss.

 

Ich kam Eure Stadt besuchen, bevor es Winter wurde. Die letzten warmen Tage eines sonnigen Herbstes zogen mit mir durch die Straßen und Gärten, die Boulevards wuchsen im sinkenden Licht. Euer Bukarest ist längst kein Micul Paris mehr, seine Klein-Schwester-Tage sind lange vergangen: Der ehemals königliche Glanz ist stumpf geworden, der Jugendstil alt, Bauhaus nur noch Geschichte. Diese Architekturen reihen sich ein, ordnen sich unter, Ceaușescus Traum einer Stadt hat die Revolution in Rumänien überlebt und nun haust Ihr darin.

 

Wenn Euer Gekläffe nachts durch die leeren Straßen schießt, ahne ich, dass Europas Rand nicht mehr fern sein kann. Ein Eindruck der Fremde, auch das Gefühl von Abenteuer und Exotik stellen sich unwillkürlich ein bei jedem tierischen Tumult: wenn Ihr Euch balgt, Euch jemand zu nahe kommt oder Ihr einfach nur die Nervosität der Stadt spürt, die Euch nährt und tötet. Herrenlos streunt Ihr durch Bukarest. In Rudeln lagert Ihr am Piaţa 21 Decembrie 1989 beim Hilton, zwischen Oper und Universität. Ihr wartet an Ampeln, wie wir Menschen es Euch vormachen, geht bei Grün, wenn alle gehen und die Blechlawine steht. Nachdem Unzählige Eurer Art unter die Räder gekommen sind, scheint Ihr auf eine elementare Weise die Verkehrsregeln verinnerlicht zu haben; doch die neuen Regeln, Verordnungen und Gesetze könnt Ihr nicht begreifen.

 

Seitdem Europa in Rumänien eingezogen ist, verändert sich der Raum um Euch herum. Das poststalinistische Getöse, das Eure Vorfahren aus ihren Häusern trieb und Bukarest begradigte, ist einem postmodernen Gewirr und Lärm gewichen. Die sozialistischen Engpässe gehören der Vergangenheit an. Virtueller Überfluss regelt heutzutage Verkehr, Konsum und Nachtleben. Die vielfältigen Verheißungen von Werbung, Politik und Religion könnten das alte Elend vergessen machen, streunte sein Erbe nicht weiter durch die Straßen.

 

An einer Hauswand am Piaţa Unirii inmitten der beschäftigten Stadt kauert ein Junge – ausgesetzt, verdreckt, verloren. Er hält eine Tüte Aurolac mit klammen Händen vors Gesicht und inhaliert. Der flüchtige Traum ohne Hunger und Zukunft wird weiter seine Lunge zersetzen, während die Menge an ihm – auch Ihr – vorübereilt. Bewegung um sich herum erfasst er nicht, die anderen spülen sich an seinem Blick vorbei. Auch den vor einem Imbiss schlafenden Straßenhund, der wohl das Fleisch träumt, das er riecht, übergeht man en passant. Der Nächste von Euch im Parcul Cișmigiu lauert auf fremde Reste im Müll, damit kennt Ihr Euch aus. Beim Patriarchenpalast bleibt die alte Ordnung gewahrt: Den Hügel hinab flankieren Bettler die Prozession der Gottesdienstgäste und ernten die Almosen der christlichen Stadt.

 

Welches Bild von Bukarest beherrscht eigentlich seinen öffentlichen Raum? Wird die Stadt ankommen im Europa der Regeln? Wird man sie vermessen, ordnen und letztlich durchökonomisieren wie jede andere westliche Metropole? Trieb darum das Parlament im Palast eine Gesetzesinitiative vor sich her, die die Tötung aller streunenden Hunde, Eure Tötung, legitimierte, um eine alte Schande aus der Stadt zu kehren? Was sagt dies eigentlich über Euch Hunde von Bukarest und was sagt der verwilderte Hund über den Menschen aus?

 

Von alters her ist Euer Verhältnis zum Menschen vielschichtiger, als es uns auf den ersten Blick erscheinen mag. Es ist keines nur zwischen Herr und Knecht; wahrscheinlich wähltet Ihr als Wolf den Menschen, um Euch domestizieren zu lassen. Die gewollte Nachbarschaft der Urhunde zu unseren altsteinzeitlichen Vorfahren hatte wohl für beide Seiten Vorteile: Die Menschen nutzten Eure Aufmerksamkeit und Ihr den menschlichen Abfall. Auch darum blieb Euer Bild ein kulturgeschichtlicher Grenzgänger, das als Todesbote oder Heiler, als treuer Freund oder Dieb, als Beschützer, Feigling, Nahrung oder Geißel betrachtet wurde.

 

Der Dokumentarfilm „A Dog’s Life“ des rumänischen Filmemachers Alexandru Solomon leiht dieser Ambivalenz auf prosaische Weise Bilder, die von einer tiefsinnigen Verwandtschaft zwischen Euch Hunden und den Menschen von Bukarest sprechen: Es gebe hier Hunde für jede Situation: Fleischereihunde, Restauranthunde, Markthunde, Stadionhunde, Bahnhofshunde, Kioskhunde; jedes Viertel in den Neubaugebieten habe einen Verschlag für die sesshafteren Blockhunde, die sich sogar einen eigenen Namen leisten können und von alten Frauen gepflegt oder von den Kindern gequält würden.

 

Euch Straßenhunde soll es in Bukarest geben, seitdem große Teile der Innenstadt durch das Erdbeben von 1977 zerstört wurden und deren radikaler Umbau zu einer Kolossalkulisse des Führerkultes die Einwohner in die Neubauten verdrängte. Dorthin durftet Ihr nicht mit, so suchtet Ihr Zurückgelassenen Euch andere Herren: Ihr bewachtet von nun an die Baustellen und Brachen des kommunistischen Gr0ßprojekts, wo Ihr Euch nach Hundeart vermehrtet. Doch bevor er seinen monströsen Plan zu Ende führen konnte, hatten Revolutionäre den Conducător an die Wand gestellt. Die Bautätigkeit wurde ausgesetzt, Rumänien demokratisch und Ihr Hunde lieft nun frei herum.

 

Die Anhänglichkeit eines erzogenen Hundes ist sprichwörtlich, doch wo Ihr verwildert lebt, dort deutet dies ebenso auf einen Mangel an Verantwortung wie auf das Fehlen amtlicher Regeln und auf materielle Not. Oft genug zieht einer dieser Gründe die beiden anderen nach sich. Und seid Ihr erst einmal an ein Leben als Streuner gewöhnt, dann sprechen wir Menschen eine andere Sprache: Vorbei die Zeiten, da wir Euch einen treuen Begleiter, Beschützer und Freund nannten, der uns gehorsam, lerneifrig und wachsam begegnete. Unvermittelt wird der Hund hündisch: Ihr führt Euer artgerechtes Hundeleben dann nach Belieben und kämpft, kotet und kopuliert. Hunde verrohen wie Gesellschaften.

 

Ihr Hunde von Bukarest seid nicht zuletzt das Zeichen einer kulturellen Korrosion, die im Kontrast von Autorität und Freiheit gesellschaftliche Übereinkünfte aufgelöst hat. Dass aber ausgerechnet jetzt die gegen Euch gerichteten Maßnahmen tödlich sein sollen, ist befremdlich, denn einerseits hält mit Europas Recht ja auch dessen Tierschutz Einzug, andererseits ist ein Gesetz, das vorgeblich die endgültige Lösung eines Problems anstrebt, geradezu der Inbegriff des bürokratischen Willens. Zwar kassierte das rumänische Verfassungsgericht dieses Gesetz, allerdings nicht wegen seines Inhaltes, sondern aufgrund von Formfehlern. Das langjährige Versäumnis einer kontrollierten Kastration muss nun durch einen bürokratischen Exzess behoben werden.

 

Damit einhergehen wird auch eine Entwilderung der Stadt. Lange genug wird Euch der öffentliche Raum ein fremdes Konzept gewesen sein. Ihr konntet Euch ohne Erlaubnis, aber auch ohne juristische Sanktionen bewegen. Sofern nun aber jeder Ort und jedes Ereignis Regelungen unterworfen wird, welche die Stadt wie ein Netz überziehen, könnt Ihr Hunde nicht anders, als Euch darin verfangen. Die Folge sind notgedrungen Delinquenzen: Markieren ist dann eine Sachbeschädigung, Lautgeben Lärmbelästigung und wehrt Ihr Euch aus der Not heraus, droht Euthanasie. So werdet Ihr Herrenlosen, deren Verstoß eigentlich in der Abwesenheit der Rechtsperson besteht, in einen juridischen Raum gesperrt, der es erlaubt, Gesetze über Eure Tötung zu diskutieren. Als streunende Hunde werdet Ihr wie vor Euch andere Existenzen der Straße zu Kriminellen – deviant, delinquent, disqualifiziert.

 

Ihr haust nicht umsonst auf der Nachtseite unseres Bewusstseins, denn hier seid Ihr so triebhaft wie gefährlich. Ihr stoßt uns auf etwas, das wir vergessen wollten: auf die Dimension der Instinkte, der Ängste und Aggressionen; jene Sphäre, die der Mensch dem Hund im Prozess der Domestikation austreiben wollte. Nur ist diese Austreibung eben kein irreversibler Prozess. Im Gegenteil, der Exorzismus des Animalischen bedarf der steten Wiederholung. Die Zucht eines Hundes bedeutet die beständige Pflege seines gewünschten Charakters. So bringt Ihr uns die drohende Regression, die unbestreitbare Umkehrbarkeit des zivilisatorischen Prozesses selbst, zu Bewusstsein. Ihr ermahnt uns, dass auch wir nur Objekte einer Selbstdomestikation sind.

 

Aber wollte man Euch darum mit tödlicher Strenge begegnen, weil Ihr uns dieser Spiegel seid, der zeigt, wer hier das Tier ist? Es schien ja nicht auszureichen, nur Eure Fruchtbarkeit zu unterbinden, um das Triebhafte und Gewalttätige nach und nach aus der Stadt zu verbannen. Nicht nur solltet Ihr Euch nicht mehr vermehren, sondern das Erbe, das Ihr angetreten hattet und stetig weitergebt, sollte getilgt werden. Als Nachfahren jener Diktatur, die Eure Verwilderung verschuldet hat, geistert Ihr durch das urbane Bewusstsein Bukarests. Ihr habt Euch festgesetzt im lebendigen Gedächtnis der Stadt und Eure ambivalente Natur verhindert jedes unschuldige Gedenken. Noch immer streift Ihr wie Wächter des Jenseits durch die nächtlichen Straßen und erinnert an ein geknechtetes Land. Ihr macht es unmöglich, sich auf die Errungenschaften einer Vergangenheit zu beziehen, die im Zeichen Ceaușescus steht, aber Ihr lasst auch nicht zu, diese einfach zu vergessen.

 

Als anhängliche Erinnerung begleitet Ihr Eure ehemaligen Herren noch immer auf Schritt und Tritt. Als hündisches Gefolge der Diktatur droht man Euch mit dem Tod. Ihr Straßenhunde aus Bukarest seid zu einer wilden Projektion geworden. Schon längst seid Ihr keine Tiere mehr, sondern selbst nur noch Konzepte, die sich definieren, gliedern und einordnen lassen. Ihr seid Eurer Natur im doppelten Sinne beraubt: Weder könnt Ihr Eurer animalischen Wildheit entsprechen, noch Euch außerhalb unseres Denkens bewegen, das alles, was es begreift, zu Kultur macht. Unseren Definitionen könnt Ihr erst dann entkommen, wenn wir selbst ihnen entkommen sind, wenn der Mensch mit seiner eigenen Auswilderung beginnt, wenn sein Humanismus endet.

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